Er ist mit seinen stolzen 3798 Metern Höhe der König der Dreitausender. Fast 40 über 3000 Meter hohe Bergriesen umgeben ihn wie ein Hofstaat, aber er überragt sie alle majestätisch. Der König heißt Großglockner. Er ist Österreichs höchster Berg in den Alpen.
Früher fürchteten sich die Menschen vor ihm. Hielten sie den Großglockner doch für den Sitz von Dämonen und bösen Berggeistern. Erst das Verlangen nach Gold und anderen wertvollen Metallen ließ die Talbewohner ihre Urängste überwinden und an seinen steilen Hängen emporsteigen, um hier Bergbau zu betreiben.
Und heute? Im Sommer erklimmen die Menschen täglich zu Tausenden das Dach der Ostalpen. Aber nicht mit Muskelkraft, sondern eingeschlossen in ihren motorisierten Blechkisten genießen sie eine der interessantesten Ausflugsziele, die Europa zu bieten hat: die Großglockner Hochalpenstraße. Sie ist mit 2505 Meter über dem Meeresspiegel Österreichs höchste Paßstraße und gilt als einer der schönsten Bergübergänge des Kontinents.
An all dies denke ich aber zur Zeit nicht. Von oben bis unten gelb eingepackt stehe ich fröstelnd neben der Fahrbahn unter einer Buche, die aber nur schlecht ihrer Aufgabe als mein Regenschirm nachkommt. Echtes Radfahrer-Pech: Vier Kilometer vorm geplanten Tagesziel hat mich noch ein Platzregen überrascht. Etwas ängstlich denke ich an den morgendlichen Wetterbericht: „Wenn jetzt bloß keines der für das Ostalpengebiet angekündigten Gewitter kommt!" Aus der schwarzen Fahrbahn ist inzwischen ein reißender Bach geworden. Die Autofahrer scheint der Regen nicht zu beeindrucken. Einige hupen, andere fahren grinsend an mir vorbei talwärts. Dazwischen ab und zu einzelne Radfahrer, die eine Gischwolke hinter sich herziehend den Autos den Geschwindigkeitsrekord abringen wollen. Sie haben schon geschafft, was ich noch vorhabe. Sie sind übern Berg.
Es nützt nichts. Ich muß weiter, auch wenn's wie aus Kübeln schüttet. Ich will heute noch bis auf 1145 Meter Seehöhe zur Mautstelle Ferleiten. Da gibt es zwei Gasthöfe, da komme ich bestimmt unter. Nach bisher 100 Kilometern – ich bin heute in Puch bei Salzburg gestartet – mag ich nicht mehr so recht. Langsam kurbele ich mich weiter bergauf – Dusche, Abendessen und Bett entgegen. Habe kaum Augen für die als „wildromantisch" beschriebene Bärenschlucht. Schnell bin ich unterm Gelben genauso naß wie außen.
Triefend spreche ich im ersten Gasthof vor. „Wie viele Personen?" fragt der Mann hinterm Tresen nur kurz. „Ich bin alleine." „Dann haben wir nichts frei." Eine Antwort, die ich nicht verstehe. Im zweiten Haus ist man zuvorkommender. Man sei zwar ausgebucht, aber fünf Kilometer bergauf in der Piffkar-Station wäre immer etwas frei. Um sicher zu gehen wird angerufen und mein Kommen angekündigt. Es ist 18 Uhr, der Regen hat aufgehört. Was soll's, ich muß weiter.
Auf einer Extraspur für Radfahrer geht's an der Mautstation kostenlos vorbei. Der Anstieg wird deutlich steiler. Die letzten Autos haben die Glocknerstraße verlassen. Der Berg gehört mir allein - fünf lange Kilometer bis zur Piffkar. Nach einigen Hundert Metern, die mir wie Kilometer vorkommen, endlich die erste Kehre. Ich schleiche mit weniger als fünf Stundenkilometern bergauf. Für meinen Tacho ist es zu wenig, er zeigt Null. Nur die zurückgelegte Strecke rechnet er noch korrekt ab. Träge zählt er im Zehn-Meter-Rhythmus.
Die Berge sind wolkenverhangen, über der noch nassen Fahrbahn liegt ein leichter Dunstschleier. Es ist fast windstill. Die Kurbelumdrehungen fallen mir immer schwerer. Ich überquere die Brücke am Schleier-Wasserfall. Nach landschaftlichen Schönheiten habe ich kein großes Verlangen mehr. Ich will nur noch Piffkar sehen. Endlich, einige Hundert Meter nach der vierten Kehre habe ich es geschafft. Es ist 19.30 Uhr. Fünf Kilometer in eineinhalb Stunden, aber 500 Höhenmeter über der Mautstation. 500 Meter näher am Gipfel. Es folgen nur noch Abendessen, Dusche, Bett – und es regnet wieder in Strömen.
Trotz der Anstrengung schlafe ich unruhig und träume von Rädern und Bergen. Durchs offene Fenster dringt das Geräusch von prasselndem Wasser. Ich habe etwas Angst vor morgen. Irgendwann in der Nacht stehe ich auf, schaue beunruhigt aus dem Fenster. Der Himmel ist sternenklar. Unterm Fenster fließt ein Bach, macht Geräusche wie ein Platzregen. Endlich schlafe ich fest ein.
Ein wolkenloser blauer Himmel und das im Sonnenlicht grellweiß strahlende 3564 Meter hohe Große Wiesbachhorn wecken mich. Meine Stimmung ist auf dem Höchstpunkt. Jetzt bin ich sicher, daß ich es schaffe. Nicht auszudenken, es hätte wieder geregnet.
Gegen acht Uhr gibt es Frühstück. Ich sitze am Fenster, schaue auf die Straße und einige Dreitausender. Kein Auto ist unterwegs. Kaffee und Brötchen schmecken ganz besonders gut.
Als ich um neun Uhr endlich loskomme, ist es mit der Ruhe vorbei. Busse, Pkw und Motorräder bahnen sich lärmend ihren Weg nach oben. Sie kommen immer schubweise, meist von einem Bus angeführt. Aberwitzig schnelle Motorradgruppen umschwirren die Kolonnen wie die Motten das Licht. Und mittendrin bin ich mit meinem Giant Expedition und über 40 Kilogramm Gepäck. Jetzt verstehe ich, daß die Straßenverwaltung Radfahrern empfiehlt, die Fahrt vor acht Uhr zu beginnen.
Bei der Fahrt auf der Großglockner-Hochalpenstraße durchquert man mehrere Klimazonen. Hier blühen Enzian direkt am Straßenrand
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Zugegeben, auch ich habe vor zehn Jahren die Glocknerstraße das erste Mal mit dem Auto bezwungen. Eine Fahrt, die für mich Flachländer ein interessantes Erlebnis war. Der Gedanke, die Glocknerstraße einmal mit dem Fahrrad zu befahren, kam mir dann einige Zeit später und schien dabei eigentlich doch recht abwegig. Ich erzählte zwar überall, daß ich's mal gerne machen würde, so richtig glaubte ich aber selbst nicht dran. Bis..., ja bis mein bisheriger Tourenpartner eine geplante Vogesenfahrt kurzfristig wegen zu dünner Finanzdecke absagte.
Bis zum Urlaub waren es da noch knapp zwei Wochen, und ein neues Ziel fehlte für die Jahrestour. Also, warum nicht endlich einmal den Radfahrertraum erfüllen? Ein Blick in den Autoatlas mit Angaben über zwölf bis 14 Prozent Steigung dämpfte zwar etwas die Euphorie, der Optimismus siegte aber. Schließlich hatte ich ja im vergangenen Jahr auch die Berge des Wienerwalds bezwungen.
Das die Großglockner Hochalpenstraße nicht der Wienerwald ist, habe ich schon vor Stunden gemerkt. Brauchte ich dort gerade mal 15 Minuten bis zum Scheitelpunkt, bin ich jetzt froh, wenn ich es 15 Minuten bis zur nächsten kurzen Verschnaufpause durchhalte. Mein Rad schnurrt nur noch im kleinsten Gang. Die Kette läuft vorne über ein 24er-Kettenrad und treibt hinten den großen 34er-Zahnkranz an. Träge zählt der Tacho wieder die Strecke im Zehn-Meter-Rhythmus ab. Mein viel zu schweres Gepäck zieht kräftig nach unten. Bei dieser geringen Geschwindigkeit habe ich große Mühe, das Fahrrad aufrecht zu halten. Das Vorderrad schlägt ständig nach links und rechts. Links neben mir sind die Autos, rechts geht's steil runter. Kein Zaun, keine Leitplanke würden meinen Absturz aufhalten. Zum Glück habe ich einen Rückspiegel. So kann ich von hinten herannahende Autos rechtzeitig sehen und versuchen, das Rad möglichst ruhig zu halten. Nicht immer gelingt es. Zwei-, dreimal mache ich trotz „Schrott von hinten" einen großen Schlenker zur Fahrbahnmitte. Ein Autofahrer hupt und schimpft. Er wird es kaum glauben, daß es von mir keine Absicht war.
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Mittels zahlreicher Serpentinen windet sich die Glocknerstraße in die Höhe
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So kämpfe ich mich Meter für Meter voran. In einer der zahlreichen Parkbuchten verschnaufen gerade zwei Radfahrerinnen, erfrischen sich aus ihren Wasserflaschen. Wir lachen uns zu. Ich schaffe noch die nächste Kehre, dann brauche auch ich eine Pause. Ich bin zwar nicht atemlos, aber die Kraft ist vorübergehend nahe Null. Ein Traubenzucker, ein Schluck Wasser und einige Minuten Blick nach unten auf die bereits zurückgelegte Strecke bringen schnell wieder Energie für die nächsten 20 Minuten.
Ich bin jetzt beim Parkplatz Hochmais in 1850 Meter Höhe. Hier an der Baumgrenze stehen die letzten Fichten und Lärchen. Die Sonne brennt vom Himmel. Es ist noch immer fast windstill. Mit kurzer Radlerhose und T-Shirt bin ich richtig gekleidet. Vom Hochmais aus habe ich einen herrlichen Ausblick auf den Talschluß und die Gletscher des Ferleitentals. Auch viele Autotouristen halten hier an. Ob sie wissen, daß der Name „Hochmais" vom althochdeutschen „meizan" kommt und so viel wie hauen oder roden bedeutet?
Wenige Minuten später habe ich auch den letzten kleinen Krüppelbaum unter mir gelassen. Dafür zeigen jetzt blühende Primeln und Enzian am Straßenrand den Weg nach oben. In 2058 Meter Höhe passiere ich die Hexenküche. Der Ausblick wird vom 3018 Meter hohen Brennkogel dominiert. An seinem Gipfel hat sich eine Wolke verfangen.
Galeerensklaven, die vor 300 Jahren hier über die Alpen von Salzburg nach Venedig getrieben wurden, hatte sicherlich weniger Freude an dem schönen Bergpanorama als ich heute. Arbeiter fanden 1977 an dieser Stelle beim Straßenausbau Ketten und Halseisen, mit denen die wegen Wilderei und anderer Verbrechen verurteilten Häftlinge damals aneinandergefesselt waren.
Immer häufiger liegt jetzt Schnee neben der Straße. Waren es anfänglich nur kleine dreckige Schneehaufen, sind es nun richtige Schneefelder mit ein bis zwei Meter Dicke. Sie haben sich in Einschnitten und der Sonne nur kurz zugänglichen Stellen gehalten. Das warme Juni-Wetter läßt sie aber unaufhaltsam dahinschmelzen. Am Straßenrand bilden sich immer wieder kleine Bäche, die dann im nächsten Abfluß gurgelnd verschwinden. Auch aus den Felswänden sprudelt es überall. Ich fülle hier meine Wasserflaschen wieder auf.
Über mir kreisen und kreischen Dohlen. Die Straße wird immer steiler und ich immer langsamer. Nach einer erneuten Traubenzucker-Pause komme ich nur noch mühsam in Fahrt. Erst nach mehrfachen Versuchen gelingt es mir, den zweiten Fuß in den Pedalkorb zu schieben. Auch nur das kleinste Verzögern beim Treten zwingt mich sofort mit den Füßen auf den Boden. In mir kommt trotz der Anstrengung ein immer größeres Glücksgefühl auf. Ich bin schon bißchen stolz auf mich. Eben haben mich sogar Motorradfahrer gegrüßt und in der letzten Parkbucht standen Holländer, die mir „prima, prima" zuriefen, als ich im Schneckentempo an ihrem Auto vorbeizuckelte.
Ich bin jetzt 2300 Meter hoch. Oben am Berg erkenne ich einige Gebäude und auf einer Bergspitze flattert die rotweißrote Fahne Österreichs im Wind. Ob das schon die Paßhöhe am Hochtor ist? Einige Minuten glaube ich fest daran, daß ich gleich ganz oben bin.
Nachdem die Straße eben um einen Felsvorsprung herumführte, bläst mir plötzlich kalter Wind ins Gesicht. Der Aufstieg wird kurzzeitig noch schwerer. Ich brauche schon wieder eine Pause.
Ein Blick auf meine Karte zeigt mir, daß ich etwas die Orientierung verloren habe. Oben wartet nicht das Hochtor auf mich, sondern das Dr.-Franz-Rehrl-Haus und der Rastplatz Fuschertörl mit der Gedenkstätte für die Arbeiter, die beim Bau der Glocknerstraße in den Jahren 1930 bis 1935 ums Leben gekommen sind. Bevor ich weiterfahre, sehe ich 100 Meter unter mir zum erstenmal im Leben ein Murmeltier über den kahlen Hang hoppeln.
Der Verkehr nimmt immer mehr zu. Mir ist fast so, als ob alle 1,3 Millionen Besucher, die im Jahr mit Kraftfahrzeugen auf die Glocknerstraße kommen, heute unterwegs sind. Trotz des nahen Etappenziels Fuschertörl brauche ich nun alle drei bis vier Minuten eine Kurzpause. Die 14 Prozent Steigung und die schon dünnere Luft greifen meine Kraftreserven mit aller Gewalt an. Immer wieder versuche ich mich zu weiteren zehn Metern zu überreden, aber trotzdem stoppe ich.
Am Fuschertörl wird in einem Turm den Opfern verschiedener Unglücke beim Bau der Hochalpenstraße gedacht. Von hier hat man einen grandiosen Blick auf die Bergwelt und den weiteren Straßenverlauf
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Um Punkt 12 Uhr habe ich es dann endlich geschafft: Ich bin am Fuschertörl. Der schlimmste Teil der Strecke ist bewältigt. 2407 Höhenmeter trennen mich vom Meeresspiegel. Auch wenn hier noch nicht der Scheitelpunkt der Hochstraße ist, so ist hier doch der touristische Höhepunkt. Überall flattern Fahnen europäischer Staaten im Wind. Vereinzelt liegt Schnee. Eine Gruppe, die gerade mit einem Bus angekommen ist, macht eine Schneeballschlacht. Rund hundert Parkplätze sind besetzt. Es gibt Bürgersteige, auf den zahlreiche Menschen mit Fotoapparaten und Videokameras auf der Suche nach dem idealen Aufnahmesatandpunkt aufgeregt hin und her laufen. Richtungsschilder geben die Entfernungen zu umliegenden Orten an: Salzburg 120 Kilometer, Lienz 59 Kilometer, Zell am See 38 Kilometer. Auf der Straße ist ein Verkehr, der auch in eine Großstadt passen würde. Es fehlen eigentlich nur noch die Fußgängerampeln zum gefahrlosen Überqueren der Fahrbahn.
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Vom Fuschertörl aus konnte ich zum erstenmal den Scheiteltunnel sehen, durch den die Glocknerstraße vom Salzburger Land nach Kärnten führt
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Ich genehmige mir zur Feier des Tages eine mitgebrachte Flasche Bier und genieße den Blick auf das grandiose Panorama der 37 Dreitausender und 19 Gletscher. Mit besonderer Freude sehe ich, daß die Straße nur noch die 100 Meter bis zur Gedenkstätte aufwärts führt. Nachdem sie die Bergspitze mit der rotweißroten Österreichfahne umrundet hat, geht's bergab. Die Route verläuft dann weiter durch ein Hochtal.
In einiger Entfernung erkenne ich einen Radfahrer, der die Hochalpenstraße in die andere Richtung bezwingt. Vor ihm liegt jetzt der Anstieg zum Fuschertörl, den ich gleich abfahren will. Noch einige Minuten Pause, dann muß ich weiter. Es geht nur noch die Steigung zur Gedenkstätte hoch. Hinter dem monumentalen Turmbau folgt ein weiterer Parkplatz mit grandioser Aussicht. Hier treffe ich den Radfahrer. Jürgen aus Berlin ist schon seit zwei Wochen auf Tour. Mit seinem Koga Traveller war er in Italien, will jetzt über Österreich in die Schweiz und weiter nach Frankreich. Vier Wochen hat er sich für die Tour Urlaub genommen. Seine Gesichtsbräune zeigt, daß er schon mehrere Tage schönes Wetter hatte. Wir fachsimpeln einige Zeit über Räder, Berge und Touren. Im Vergleich zu mir hat er wenig Gepäck. Dabei bin ich sogar nur eine Woche unterwegs. Besonders erstaunen ihn meine Stereo-Lautsprecher an der Lenkertasche. Er erzählt mir, daß ihn am Berg die Motorräder mit lauter Musik besonders genervt hätten. Daß er jetzt aber in über 2400 Meter Höhe auch noch einen Radler mit so einer Anlage treffen würde, hätte er nicht erwartet. Mein Argument, daß mich Wagner, Strauß und David Bowie beim Aufstieg unterstützt haben, mag er kaum glauben. „Zieh dir vor der Abfahrt eine Jacke an", rät er mir noch zum Abschied.
Wie berechtigt sein Tipp ist, merke ich schon nach wenigen Metern auf der Gefällstrecke. Mein schweißnasses T-Shirt, bisher durch eigene Leistung von innen gewärmt, wird plötzlich zum Kühlhaus. Ich muß schnell anhalten und mir etwas überziehen. Jetzt geht es abwärts. Nach den vielen Kilometern ständiger Aufstiegsqual ist es ein berauschendes Gefühl. Ich bremse mit meinen Cantilevern mehrmals bis zum Stillstand ab, um dann das erneute anstrengungslose Beschleunigen zu genießen.
Der Abfahrtsrausch hält aber nur kurz an. Nach etwas mehr als einem Kilometer bin ich gut 230 Meter tiefer und am Ende der Gefällstrecke. Die Glocknerstraße führt weiter durch ein imposantes Hochtal. Links liegt eine Jausenstation mit solarzellenbetriebener Telefonzelle, rechts ein kleiner Schmelzwassersee. Auf der Hangseite reicht der Schnee nun durchgehend bis an die Fahrbahn. Ab und zu parken Räumfahrzeuge in den Haltebuchten. Ich lutsche wieder Traubenzukker und kurbel mich bergauf in Richtung Mittertörl-Tunnel. Meine Jacke habe ich gleich anbehalten, denn die inzwischen bis zu vier Meter hohe Schneewand rechts neben der Straße strahlt so viel Kälte aus, das ich trotz der Steigung zu frösteln beginne.
Im Vergleich zum Aufstieg zur Gedenkstätte geht's nun geradezu sanft nach oben. Nach wenigen Minuten ohne Zwischenpause bin am Mittertörl-Tunnel. Ein Hinweisschild fordert Busse auf, in der Tunnelmitte zu fahren. Ich warte einige Minuten bis kein Gegenverkehr kommt, schalte mein Licht ein und fahre in das dunkle aus großen Steinquardern gebaute Tunnelloch. Es ist stockfinster, keine Deckenlampe leuchtet – nur Wasser tropft von oben. Meine Augen gewöhnen sich zu langsam an den starken Unterschied. Der Scheinwerfer nützt nichts, ich kann mich nur am anderen Tunnelende orientieren.
Nach 117 Metern Finsternis hat mich die Helligkeit wieder. Die Sonne strahlt inzwischen erbarmungslos vom Himmel. Ein prüfender Blick in den Rückspiegel zeigt die Folgen: Das Gesicht ist knallrot. Meine bisherige Bräune schützt mich nicht vor einem starken Sonnenbrand. Drei Tage später hängt die Gesichtshaut in Fetzen herunter. Ich habe die Kraft der Höhensonne voll unterschätzt.
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Die Paßhöhe naht. Die letzten Aufstiegsminuten haben begonnen. Ich muß jetzt all meine restlichen Kräfte mobilisieren. Als krönender Abschluß geht die Steigung noch einmal auf fast 14 Prozent hoch. Der erlösende Tunnelmund am Hochtor ist zum Greifen nah, aber noch liegen zwei Serpentinen vorm Ziel. Die Schneewand neben der Fahrbahn ist an der Hangseite inzwischen auf teilweise sechs bis acht Meter angestiegen. Ich empfinde die von ihr ausgehende Kühle als angenehm. Wenn ich auch nicht schwitzte, so bin ich doch am Ende meiner Kräfte. Gut 50 Meter vorm Tunnel muß ich noch einmal kurz pausieren, dann packe ich es endlich. Eine Minute später habe ich es geschafft. Es ist 14.30 Uhr. Mein Radlertraum ist erfüllt! Auf der heutigen Strecke von 15,09 Kilometern habe ich eine halbe Weltreise durch alle Klima- und Vegetationszonen von Mitteleuropa bis zur Arktis macht.
Mit dem lateinischen Sinnspruch „IN TE DOMINE SPERAVI" begrüßt mich der Hochtor-Tunnel. Der in Stein gemeißelte Satz bedeutet etwa so viel wie „Herr, auf Dich habe ich vertraut". Die hölzernern Schiebetore des Tunnels sind einladend weit geöffnet. Während der Wintersperre verhindern sie das Eindringen von Schnee in die Tunnelröhre.
Im Hochmittelalter war das Hochtor aber gerade im Winter Ziel vieler Alpenüberquerer. Nach Brenner und Katschberg verlief hier der drittwichtigste Handelsweg zwischen Deutschland und dem Mittelmeer. Schon zur Römerzeit herrschte am Hochtor reger Verkehr. 1933 wurdebeim Bau des Tunnels eine römische Herkules-Statue gefunden. Damals entdeckten die Bauarbeiter auch die Überreste eines vier Meter breiten Fahrweges, der noch heute im Volksmund „Römerweg" genannt wird.
Ich denke nicht an die alten Römer und ihre Weingelage, sondern genieße meine zweite Flasche Bier. Die letzte, die ich im Bundesland Salzburg trinken kann, denn hinter der Unterführung beginnt Kärnten. Dann fahre ich in den 132 Meter langen Tunnel. Im Innern ist er der Zwillingsbruder des Mitteltörls: dunkel und naß. Schon nach fünf Metern geht es aber bergab. Die Großglockner-Hochalpenstraße ist bezwungen.
Auf der Kärntner Seite empfängt mich Wind. Ein Wind, wie er an den Südhängen dieser Berggruppe oft weht. Stolz lasse ich mich auf dem Parkplatz von einer Autofahrerin vor dem Schild „Hochtor, Paßhöhe, 2504 ü. d. M." fotografieren. Leider kann ich nicht zu Hause anrufen und von meiner Glockner-Bezwingung berichten, denn ich finde keine Telefonzelle. Hier gibt es nur einen Parkplatz mit Imbiß und Souvenirstand. Die Tunneleinfahrt gleicht der auf der Salzburger Seite – sogar der Spruch ist identisch.
Bevor ich abfahre, genieße ich noch einmal den Blick auf das Alpenpanorama. Vor mir liegt das Heiligenbluter Skigebiet. Links der 2604 Meter hohe Schareck mit seiner Gondelstation, in der Mitte Viehbilhel und Fallbichl, rechts die nach dem Erbauer der Straße, Ingenieur Franz Wallack, benannte Raststätte Wallackhaus. Wenige Minuten später sause ich hier vorbei.
In stundenlanger harter Strampelei errungene Höhe verfliegt in Sekunden. Jetzt zeigt mein Tacho wieder die Geschwindigkeit korrekt an. 40, 50, 55 Stundenkilometer – kein Auto überholt mich mehr. Der Fahrtwind knallt mächtig ins Gesicht und läßt meine Jacke ohrenbetäubend knattern. Die Luft ist nicht mehr so kühl, sondern wird ständig von Minute zu Minute wärmer. Ich ziehe die Bremsen immer wieder kräftig an, um nicht zu schnell zu werden. Es ist wie beim Aufstieg, mein schweres Gepäck zieht mich nach unten. Zeit und Kilometer vergehen wie im Fluge.
Ehe ich mir überhaupt Gedanken machen kann, bin ich in 1859 Meter Höhe beim Posthaus Guttal an der Abzweigung zur Gletscherstraße. Ein kurzer Blick nach rechts – und ich bin vorbei. Zu spät, um noch einen Abstecher zum berühmten Pasterzengletscher zu machen. Vor mir taucht eine Autokolonne auf. Vorneweg ein Reisebus. Bergab sind sie genauso langsam wie bergauf. Nach der nächsten Kurve ist die Gegenfahrbahn frei. Zwei, drei kräftige Tritte in die Pedale und ich ziehe schnell an den Autos vorbei. Mein schweres Reiserad erweist sich als erstaunlich wendig. Für einen Moment komme ich mir wie ein Motoradfahrer vor. Ein kurzer Blick auf den Tacho läßt mich aber erschrecken: 74 Stundenkilometer. Ich bremse ab und rolle langsamerweiter.
Jetzt würde ich gerne einen Menschen um mich haben. Einen Menschen mit dem ich mein Glücksgefühl erleben und teilen könnte. Ich mache wieder alle paar Minuten eine Kurzpause. Diesmal aber nicht wegen Kraftmangel, sondern um die Abfahrt zu genießen. Viel zu leicht lasse ich mich zum „Runterdonnern" verleiten. Im Handumdrehen könnte ich unten sein – und ich hätte gar nichts gesehen. Trotzdem bin ich schon nach wenigen Minuten am Tauernbach. Hier herrscht echte Alpenidylle wie im Prospekt: Neben dem rauschenden Gebirgsbach grasen rotbunte Kühe mit klingenden Glocken auf buntblühenden saftigen Bergwiesen, die ersten Bäume haben sich angewurzelt. Während ich noch genieße, kommt eine Gruppe tschechischer Rennradler zum Auffüllen der Wasserflaschen. Mehr als die nationale Herkunft können wir uns wegen der Sprachschwierigkeiten nicht mitteilen.
Zur Abwechslung kommt dann noch einmal eine gut 200 Meter lange Steigung zum Rastplatz Kasereck. Hier in 1930 Meter Höhe kann man noch Reste des Römerwegs bestaunen. Ich rolle vorbei in Richtung Mautkasse Roßbach. Links liegen die im Sommer verlassenen Anlagen der Heiligenbluter Skilifte, quer über die Straße die Kassenhäuschen der Großglockner Hochalpenstraßen AG. Bis in Österreichs schönstes Bergdorf Heiligenblut (1301 m. ü. M.) sind es noch einige Serpentinen und 400 Höhenmeter. Links und rechts der Straße stehen wieder hohe Bäume, landschaftliche Schönheiten laden nicht mehr zum Halten ein.
Kurz nach 15 Uhr bin ich am Ortseingangsschild vom Wallfahrtsort Heiligenblut. Die Glocknerstraße ist zu Ende. Für die heutigen 32 Kilometer habe ich sechs Stunden benötigt. Sechs Stunden, die mir manchmal das Letzte abverlangt haben, aber auch sechs Stunden, die mir ein unbeschreibliches Glücksgefühl bereiteten.
Im Dorf geht's gleich in den ersten Souvenirladen. Ich kaufe einen Großglockner-Aufkleber und pappe ihn aufs hintere Schutzblech. Alle sollen sehen, daß ich oben war.
Der Ort liegt noch im Frühjahrsschlaf. Hotels und Restaurants haben fast ausnahmslos geschlossen. Erst nach einiger Suche finde ich eine Pension für die nächsten Nächte, denn ich habe beschlossen, drei Tage hierzubleiben. Am Abend schreibe ich Postkarten an alle, die es vielleicht interessiert: „Ich bin über den Berg. Es war das Tollste, aber ich mache es nie wieder."
Am nächsten Tag halte ich mich bei den kleinen Fahrten durch das Heiligenbluter Mölltal noch an meinen Kartentext. Den Tag darauf werde ich schon wortbrüchig. Trotz Dauerregens beginne ich – diesmal ohne Gepäck – den Aufstieg über Forstwege und gelange schließlich in 1850 Meter Seehöhe zur Glocknerstraße. Ich fahre weiter, merke aber schnell, daß mir dieser Streckenabschnitt unbekannt ist. Eine Hinweistafel verrät, daß ich schon auf der Gletscherstraße zur Pasterze bin.
Aus dem Regen wird schnell ein kräftiger Schneesturm. Die Flocken pfeifen mir ins Gesicht und verkleistern die Brille; nach der nächsten Kehre wirkt der Wind dann als unterstützender Antrieb. Beiderseits säumen große Schneefelder die Straße. Dazwischen versuchen Tausende Krokusse zaghaft ihre Blütenkopfe aus der Erde zu stecken.
Ich fahre tief nach vorne gebeugt, versuche mein Gesicht vor den nassen Schneeflocken zu schützen. So sehe ich nur das Vorderrad. Plötzlich schreckt vor mir ein Murmeltier auf. Es saß auf der Fahrbahn und hatte wohl mit keinem Verkehr mehr gerechnet. Es rennt zu einem Abfluß auf der Hangseite. Hier verschwindet es. Einige Meter weiter halte ich an und warte ein paar Minuten. Der braune Alpennager läßt sich aber nicht wieder sehen.
Vorbei am 1876 erbauten Glocknerhaus komme ich so zum Margaritze-Stausee, dessen Wasser auch das Tauernkraftwerk in Kaprun speist, und anschließend zum Pasterzen-Gletscher am Freiwandeck (2369 m). Kein Auto, kein Motorrad und kein Bus hat sich heute hier hoch gewagt. Der Parkplatz und das riesige Parkhaus sind abgesperrt, Restaurants und Souvenirläden haben geschlossen.
Der 24 Quadratkilometer große Gletscher liegt einsam in seinem Trog, seine Oberfläche sieht düster grau aus. Er hat wenig Ähnlichkeit mit den imposanten Fotos der Prospekte und Postkarten. Eher erinnert er an einen zehn Kilometer langen Schneehaufen, der schon Wochen in einer Großstadt am Straßenrand gelegen hat. Vom Großglockner, der hinter dem Gletscher aufragt, ist heute nichts zu sehen. Auch von der 53 Meter höher gelegenen Franz-Josephs-Höhe ist der Ausblick nicht besser. Die tiefhängenden Wolken verhüllen den Bergriesen völlig.
Glück muß man haben, ein Lokal hat doch geöffnet. Hier sitze ich alleine bei einem Jagatee und wärme mich auf. Ich bin froh, daß ich doch noch zum Gletscher gefahren bin. Vor zwei Tagen hatte ich mich vom Abfahrtsrausch treiben lassen und abends darüber geärgert.
Jetzt bin ich sicher, daß es nicht die letzte Tour in diese Berge war. Einmal Hochalpenstraße, immer Hochalpenstraße.
Großglockner, ich komme wieder!
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